Die Geschichte spielt auf einer tropischen Insel mitten im Indischen Ozean. Einst lebten hier Bauern, doch deren Land wurde von Investoren aufgekauft, um dort eine Smartcity zu errichten.
„Living Eden“ ist ein Leuchtturmprojekt, das international um Anerkennung bühlt. Die Stadt verspricht ein nachhaltiges Leben innerhalb und außerhalb der Mauern. Doch die Stadt wird ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht: Vor den Stadtmauern müssen die Menschen im dreckigen Abwasser von „Living Eden“leben. Es gibt nicht genügend Arbeitsplätze, keinen Wohnraum, keine medizinische Versorgung.
Alle wollen etwas vom Kuchen abhaben, doch in dem Versuch ihrer Opferrolle zu entfliehen, treten sie um sich, bis sie selbst zum Täter werden.
Wer in Armut lebt, kämpft ums Überleben. Die Reichen scheinen die Quelle allen Übels zu sein und müssen besiegt werden. Doch wann wird man selbst vom Opfer zum Täter?
1
Vor über einem Jahr hatte ihre Schwester sie in diesem billigen Restaurant am Straßenrand zurückgelassen – und ihre
Mutter mitgenommen. Jeden Tag versuchte sie, die beiden zu erreichen, doch das Risiko, das sie dafür auf sich nahm, war
groß. Versteckt zwischen Türmen aus Getränkekästen presste sie sich das ausgeliehene Handy ans Ohr.
Ausgeliehen im Sinne von: ungefragt ausgeliehen.
Normalerweise tat sie so etwas nicht mehr. Doch nachdem die beiden verschwunden waren, hatten die paar übriggebliebenen Rupien nur für fünf Anrufe in der Telefonzelle gereicht. Keine langen Telefonate, in denen sie ihrer Mutter von den Freuden des Alltags berichten konnte. Nein – stressige Telefonate, bei denen ihr mindestens vier Leute im Nacken
geklebt hatten, um selbst für ein paar Minuten in dieser Box mit einem geliebten Menschen zu sprechen. Immerhin hatte
ihre Schwester ihr überhaupt die Telefonnummer im neuen Heim mitgeteilt. Allein dafür sollte sie ihr ein Dankesgeschenk
hinterherschicken. Ach halt – die Adresse hatte sie nicht rausgerückt.
Und jetzt ging dieses Miststück nicht ans Telefon.
„Komm schon Maheen, geh dran.“ Nakusa nahm das Handy vom Ohr, um sich zu vergewissern, dass es noch tutete, denn
durch den Straßenverkehr, der hinter dem billig erbauten Kabuff lärmte, verschwamm das Piepen zu einem monotonen Ton.
„Was?“
Nakusa zuckte zusammen und presste sich das Handy schnell wieder ans Ohr. „Maheen, bist du das?“
„Wer sonst?“
„Ich – bitte – lass mich mit ihr sprechen.“ Nakusa kniff die Augen zusammen, denn so direkt hatte sie sich seit
Wochen nicht getraut, ihre Schwester zu fragen. Mit der freien Hand fuhr sie sich über das Gesicht, ärgerte sich
über ihren Aussetzer. „Ich meine, wie geht’s dir?“
Maheen schwieg.
„Hast du mittlerweile einen Job gefunden? Mama hat erzählt, dass-“
Das Handy tutete, klar und deutlich, durch den Umgebungslärm hindurch.
Nakusa biss die Zähne aufeinander und schnaufte. Hatte wieder eine Taube auf den nächsten Telefonmasten gekackt
oder warum war die Leitung tot? Dieser ganze Aufwand – sie schielte zur Tür des Lagerraums – alles ruhig – sie tippte
erneut die Nummer ein-
„Ja, ich hol ja schon einen Neuen.“ Janu, ihre Kollegin, riss die Tür zum Lagerraum auf. Stöhnend hievte sie einen
Getränkekasten in die schmale Gasse aus Vorräten und stolperte über Nakusa.
Nakusa stopfte das Handy in ihre weite Hosentasche, streifte den Stoff ihres T-Shirts darüber, um die Ausbeulung
zu verstecken, und setzte ein Grinsen auf. „Soll ich dir helfen?“
„Dein Ernst?“
„Mir war grad nicht gut. Ich musste mich kurz ausruhen.“
Nakusa griff nach dem Getränkekasten, doch Janu hob ihn bereits mit Schwung auf den nächsten Turm.
„Du übernimmst Tisch drei und vier.“ Janu tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Brust.
„Gerne!“ Nakusa eilte ihr hinterher. Im Vorbeigehen ließ sie das Handy zurück auf den Arbeitstisch ihres Chefs
gleiten. Mit Blick auf Janus Rücken richtete sie das Gerät in den richtigen Winkel aus. „Wie geht’s deiner Tochter?“
„Tisch drei und vier.“ Janu deutete auf zwei verlassene Tische am Straßenrand. „Am besten, du nimmst gleich den
Eimer.“
Nakusa gehorchte, holte den Mülleimer hinter der Theke hervor und eilte zu dem Tisch, dessen Gäste scheinbar keine
Teller erhalten hatten. Reisklumpen badeten in einer roten Lache aus Masala-Sauce. Wie konnten Menschen nur so mit
Essen umgehen. Welches Festessen das damals für sie gewesen wäre…
Sie klemmte den Mülleimer unter die Tischkante und zog mit dem Lappen die Pampe vom Tisch ab. Eine schwarze
Haarsträhne fiel ihr immer wieder ins Gesicht, doch mit den eingesauten Händen konnte sie sie nicht im Pferdeschwanz
verstauen. Was sollte die Kundschaft nur denken? – Haare im Essen garantiert. Hastig schaute sie sich um und ihre
Gesichtsmuskeln sprangen automatisch in die Position eines Lächelns. Niemand beachtete sie.
„Namah, schalt mal lauter.“ Mit einem Teller in der Hand kam ihr Chef aus der Küche, hockte sich an die Theke und
ließ sich von dem Ventilator anblasen. Nur gegen die Schweißansammlungen in seinen Speckfalten vermochte auch
dieses Wunderwerk der Technik nichts auszurichten.
Nakusa verstärkte ihr Lächeln, brachte den Mülleimer zurück und wusch sich die Hände nach dem Massaker. Ohne eine zweite Aufforderung abzuwarten wie sonst, stellte Nakusa den Fernseher lauter, auch wenn ihr Chef selbst dazu in der Lage gewesen wäre. „Passt?“
„Noch ein bisschen.“ Ihr Chef schien erfreut, dass seine Erziehungsmaßnahmen endlich Wirkung zeigten. „Namah, du hast bis jetzt nichts gegessen. Hier, nimm meinen Teller. Ich hol mir einen anderen.“
„Nein, das ist sehr großzügig. Ich hole mir nach Schichtende was. Sie haben mir doch etwas übrig gelassen?“
Kurz lachte er. „Komm Mädchen, du siehst hungrig aus. Ein bisschen Energie tut dir gut. Komm.“ Er klopfte auf den
Stuhl neben sich.
Ihre Mundwinkel lächelten, doch ihre Augen schielten auf das Handy, das er neben dem Teller auf den Tisch gelegt
hatte. Das war verdammt knapp gewesen! Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er zwischendurch im Lager war.
Das Essen roch köstlich. Der neue Koch zauberte mit plumpen Zutaten ein kurzweiliges Paradies auf die Zunge.
Doch so gerne sie es auch verschlungen hätte, knotete sich gerade ihre Speiseröhre vom Magen aufwärts zu.
Ihr Chef lehnte sich zurück und nahm das Handy in die Hand. In der Reflexion des Lampenscheins erkannte Nakusa
ihre fettigen Fingerabdrücke auf dem Display. Hoffentlich bemerkte er sie nicht. Und hoffentlich rief Maheen nicht
zurück. Wenn ihr Chef erfuhr, dass sie dieses kostbare Gerät angefasst hätte, wäre es vorbei mit der gefühlsseligen Show
– nein, bitte nimm du – nein bitte, ich hol’ mir einen neuen Teller. Dann hieße es: Verpiss dich und zahl gefälligst für
den Teller, den du angeguckt hast.
Sie hatte keine Zeit gehabt, ihren Anruf zu löschen.
Selbst wenn Maheen nicht zurückrief, würde er die Nummer sehen und vielleicht selbst anrufen.
„Sind Sie zufrieden mit dem neuen Koch?“ Nakusa reckte sich, um ihm über das Handy hinweg ihre Zähne zu
präsentieren.
„Bist du’s denn? Kali hat es ja in drei Jahren nicht geschafft, dir etwas mehr Speck auf die Rippen zu zaubern –
he.“ Ihr Chef kniff ihr in die Seite. Als wäre das witzig. Als würde sie seine Berührungen mögen.
„Ja, das wäre was. Aber nicht, dass Sie ihm das als Bedingung auferlegen. Ich glaube, ich kann gar nicht
zunehmen.“
„Also wenn das nicht eine Grundvoraussetzung für einen Koch ist.“
Nakusa schielte auf das Handy, das wieder auf dem Tisch lag. Sie musste ihn bei Laune halten. „Andererseits hatten
Sie bei Kali nicht das Problem zuzunehmen, oder?“
Schon wieder so ein Aussetzer. Sie musste sich besser konzentrieren. Angespannt wartete sie auf seine Reaktion.
Ihr Chef lachte und tätschelte ihr freundschaftlich auf die Schulter. „Da hast du auch wieder Recht. Ja, aber Kali
war nicht gut. Der hat mir die ganze Kundschaft vergrault. Manche Leute müssen verschwinden.“
Nakusa nickte bestätigend, doch ihr Blick hing an dem schwarzen Display, aus Angst, dass es jederzeit wegen des
eingehenden Anrufs anspringen würde. „Wir könnten ein paar Schilder malen, um mehr Leute
anzuziehen. Etwas, das den Laden freundlicher erscheinen lässt.“ So handhabten es die anderen Restaurants und die hatten mehr als nur vier einsame Männer als Kundschaft, die in weitestmöglichem Abstand von einander saßen und alle in ihre Handys glotzten.
„Alles was mehr Geld bringt, ist gut.“
Er saß ihr unangenehm nahe. Früher hatte ihre Mutter mit hier gearbeitet und jegliche Fehler auf sich gezogen, damit
Nakusa möglichst wenig Kontakt mit dem Chef hätte. Sie musste unbedingt mit ihr telefonieren. Ihre warme Stimme
hören. Ihre Worte, waren sie auch schwach und gebrechlich wie sie sich von der anderen Seite der Insel durch die
Leitung kämpften, würden diesen warmen Schleier über sie legen. Würden Nakusa wieder zu einem Ganzen zusammenfügen, denn je länger sie alleine hier festsaß, umso mehr zerfiel sie innerlich in Puzzlestücke, die nicht mehr
zusammenpassten.
Das Handy klingelte.
Nakusa erstarrte.
Ihr Chef griff nach dem Telefon.
„Nein, es wäre sicher besser-“, sagte sie.
Er tippte auf den grünen Knopf. „Hallo?“
Nein, nein, nein. Nakusa lehnte sich zu ihm rüber,
streckte die Hand nach dem Handy aus.
Er drehte sich weg. „Wer ist da?“
Sie landete mit einem Ellenbogen in dem Essen. „Chef, ich kann das erklären.“
„Nein, mach’ dir keinen Stress, das reicht morgen.“ Er lachte.
Nakusa hielt sich den Mund zu, doch es war ihr Herz, das diesen Lärm veranstaltete. Eilig wischte sie sich Reis und Masala-Sauce vom Ellenbogen.